Franziska
«Ohne Cannabis würde ich heute wahrscheinlich nicht mehr leben.»
Es war im Sommer 2009, als mein «altes» Leben durch einen Gleitschirmunfall von heute auf morgen abrupt endete. Ich brach mir bei dem Unfall mehrere Halswirbel und bin seitdem vom Hals abwärts gelähmt. Meinen Kopf kann ich noch bewegen und so kann ich dank Spezialsteuerknüppeln mit meinem Kinn oder meiner Nase meinen elektrischen Rollstuhl, mein Handy und meinen Computer bedienen. Abgesehen davon bin ich rund um die Uhr auf fremde Hilfe angewiesen – ohne würde ich verdursten oder verhungern.
In der Zeit nach dem Unfall haderte ich sehr mit meinem Schicksal. Wut, unendliche Traurigkeit und die Frage nach dem Warum quälten mich. Ich bin ein lebensbejahender Mensch, aber damals wünschte ich mir, ich wäre beim Unfall gestorben.
Allgegenwärtige Schmerzen
Als wären die plötzliche Behinderung und die inneren Kämpfe nicht schon schlimm genug, begannen rund zwei Monate nach dem Unfall die ersten schweren spastischen Krämpfe. Ein halbes Jahr später kamen qualvolle, neuropathische Schmerzen hinzu. In meinem Fall bedeutet das: Ich kann meinen Körper zwar nicht mehr bewegen, verspüre aber bei Berührungen – vor allem an den Händen und Armen – kribbelnd-stechende Schmerzen. Es fühlt sich an, als wären Hände und Arme permanent in kochendes Wasser getaucht – die reinste Folter. Die Schmerzen entstehen, weil meine Nerven in der Wirbelsäule gequetscht wurden und jetzt vernarbt sind.
Lebensbedrohliche Nebenwirkungen
Anfangs war ich noch optimistisch und dachte, es gäbe Medikamente gegen meine Schmerzen. Ich habe – wie bei neuropathischen Schmerzen üblich – eine Mischung aus verschiedenen Medikamenten verschrieben bekommen: Schmerzmittel – darunter Opiate , die gar nichts geholfen haben, weshalb ich sie gleich wieder abgesetzt habe. Zudem hatte ich einen Mix aus Muskelentspannungsmitteln, Antidepressiva und starken Beruhigungsmitteln. Das Problem dabei: Diese Medikamente machen hochgradig abhängig. Mit der Zeit ging es mir immer schlechter. Ich hatte eine Thrombose, eine Lungenembolie und drei Lungenentzündungen. All das hätte tödlich für mich enden können. Zudem hat der «Chemie-Cocktail» meinen Magen und meine Darmflora extrem beschädigt. Nach jedem Essen musste ich erbreche. Ich magerte zusehends ab. So konnte es nicht weitergehen. Ich setzte mich selbst auf Medikamentenentzug.
Cannabis ersetzt Medikamente
Dass Cannabis gegen meine Schmerzen hilft, habe ich noch in der Unfallklinik herausgefunden. Viele Patienten «kifften» dort. Nur hatte ich Cannabis nicht systematisch als Therapie eingesetzt. Als mir eine Freundin erzählte, dass Cannabis auch gegen Spastik helfen würde, beschloss ich, es mit einer Selbsttherapie zu versuchen. Und ich war begeistert: Meine Muskulatur entspannte sich, die Schmerzen waren nicht mehr so intensiv und mein Gemütszustand hellte sich auf. Mithilfe von Cannabis habe ich nach und nach die verschiedenen Medikamente, die ich eingenommen habe, abgesetzt. Erst da habe ich gemerkt, wie abhängig ich von ihnen war. Denn nach dem Absetzen hatte ich mit schweren Entzugserscheinungen wie Schlaflosigkeit, Erbrechen, Depressionen und stärkeren Schmerzen zu kämpfen. Auch dagegen half Cannabis rauchen.
Legale Cannabis-Medikamente zu teuer
Ein befreundeter Arzt beantragte auf meinen Wunsch eine Sonderbewilligung beim BAG. Dadurch bekam ich Cannabis-Medikamente in Tropfenform. Cannabisblüten, die ich tagsüber rauche, um meine spastischen Krämpfe zu lindern, sind legal nicht erhältlich. Die Cannabistropfen aus der Apotheke sind für mich aber viel zu schwach dosiert, da ich ja alle anderen Medikamente abgesetzt habe, und zudem viel zu teuer. Ein 50-ml-Fläschchen Cannabistinktur aus der Apotheke kostet 550 Franken, legal würde ich bei diesen Preisen weit über 30'000 Franken im Monat für Cannabis-Medikamente in der von mir benötigten Dosierung ausgeben.
Weil ich mir das niemals leisten könnte, muss ich Cannabis zum Rauchen und zum Einnehmen illegal besorgen. Für mich bedeutet das «Beschaffungsstress». Einerseits weil ich dafür auf die Hilfe anderer angewiesen bin: Sie müssen illegal handeln, damit ich weniger Schmerzen habe. Andererseits auch, weil die Kosten trotzdem noch hoch sind – manchmal nehme ich lieber etwas weniger, obwohl die Schmerzen fast nicht auszuhalten sind. Weil ich immer im Hinterkopf habe, wie teuer meine Therapie ist. Ich nehme noch Vitamine, Spurenelemente und Nahrungsergänzungsmittel, damit es mir so geht wie es mir heute geht und auch die sind teuer.
Vorbildliches spanisches Modell
Dem «Beschaffungsstress» kann ich seit 2016 für ein paar Monate im Jahr aus dem Weg gehen. Da meine Schmerzen bei Kälte noch grösser werden, «überwintere» ich auf den kanarischen Inseln. Die Wärme tut mir gut, ich kann mir intensive Physiotherapie leisten – was sich ebenfalls positiv auf meinen Körper und meine Seele auswirkt. Und ich komme jederzeit und stressfrei auf legalem Weg an Cannabis.
In Spanien gibt es sogenannte «Cannabis Social Clubs». Eine Mitgliedschaft kostet 50 Euro im Jahr. Ich werde dort sehr kompetent betreut und kann jetzt jederzeit mein Medikament richtig dosiert und in Kapselform telefonisch bestellen. Die Kosten pro Monat belaufen sich auf rund 1200 Euro – einen Teil davon übernimmt sogar meine Unfallversicherung. Zudem kann ich verschiedene Cannabissorten auszuprobieren, um herauszufinden, welche am besten gegen meine Schmerzen helfen. Ein solches System würde ich mir für die Schweiz auch wünschen.
Cannabis verbessert Lebensqualität
Im Nachhinein kann ich sagen, dass mir Cannabis wohl das Leben gerettet hat. Und mir sogar eine gewisse Lebensqualität zurückgegeben habe. Meine Magen-Darm-Probleme gehören der Vergangenheit an – ich habe sogar wieder Appetit. Zudem lindert Cannabis meine Spastik und die neuropathischen Schmerzen: Und seitdem ich dank Cannabis die Antidepressiva abgesetzt habe, kann ich dem Schmerz durch gezielte Meditation ein Stück weit entfliehen. Das war mit den Medikamenten nicht möglich, denn sie benebelten mich.
Mein Einsatz bei MEDCAN
2015 bin ich in den Medical Cannabis Verein eingetreten und übernahm nach dem Tod unseres Gründungsmitglieds Bruno Hiltebrandt im gleichen Jahr die Präsidentschaft. Für mich ist die Arbeit im Verein aus persönlichen, aber auch aus weiteren Gründen sehr wichtig. Einerseits konnte ich mich bei Patiententreffs mit anderen Betroffenen austauschen und so meine eigene Therapie verbessern. Andererseits bedeutet es mir sehr viel, mit der Vereinsarbeit über die Möglichkeiten einer Cannabistherapie zu informieren, Menschen vor Medikamentenabhängigkeit zu bewahren und gleichzeitig in Öffentlichkeit und Politik immer mehr Mitstreiter/-innen für unsere Anliegen zu gewinnen.
Wissenswertes zu Tetraplegie
Auf altgriechisch bedeutet «tetra» vier und «plēgḗ» Schlag oder Lähmung. Bei Tetraplegikern sind alle vier Gliedmassen, Arme wie Beine, gelähmt. jährlich rund 100 neue Betroffene in der Schweiz, meist infolge von Unfällen oder Tumoren Tetraplegie: Schädigung des Rückenmarks im Bereich der oberen 7 (Hals-)Wirbeln bzw. der 8 oberen Wirbelsegmenten organische Einschränkungen infolge der Querschnittlähmung Blasen- und Darmfunktionen Funktionieren von Lunge, Herz etc. Sexualfunktionen Spürsinn/Sensibilität, z.B. Empfinden von Kälte oder Wärme Häufige Begleiterscheinungen der Tetraplegie Viele Betroffene leiden an Schmerzen oder Missempfindungen im Grenzbereich der Lähmung, aber auch unterhalb davon im gelähmten Teil des Körpers. Diese werden als brennend, stechend oder pochend beschrieben und können – wie bei Franziska – permanent oder nur bei einer Reizung (z.B. Berührung) auftreten. Die Schmerzen führen bei Betroffenen oftmals zu einem Teufelskreis aus Schmerz, Angst, Schlafstörungen und Depressionen.