Nicolas
«Mir wurde ein zweites Leben geschenkt. Doch die Schmerzen in meinem neuen Leben ertrage ich nur dank Cannabis.»
Nicolas ist 42, als eine schwere Hirnblutung sein Leben für immer verändert. Nicolas hat von Geburt an eine – bis dahin unentdeckte – arteriovenöse Malformation (siehe Box unten). Diese löst die schwere Blutungen aus, wie in Nicolas Fall mit langwierigen Folgen.
Das Leben davor
In seinem «ersten Leben» ist Nicolas verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder, einen Job in einer leitenden Funktion und er betreibt leidenschaftlich Functional Fighting – eine Kampfsportart, in der alle möglichen Schläge und Tritte erlaubt sind. Auch gegen den Kopf. Im Frühjahr 2013 hat Nicolas nach einem Trainingswochenende zum ersten Mal motorische Ausfälle. So kann er beispielsweise für kurze Zeit einen Arm nicht mehr bewegen. Die Vorfälle häufen sich. Nicolas lässt in der Folge diverse medizinische Abklärungen machen. Ganze vier Mal wird sein Hirn in der MRI-Röhre gescannt. Seine arteriovenöse Malfunktion bleibt dabei unentdeckt. Stattdessen erhält er eine Fehldiagnose, die man gemäss Neurologe nicht behandeln müsse.
Das lebensverändernde Ereignis
Einen Monat später kommt es bei Nicolas zur Hirnblutung. Er arbeitet im Garten, als er bemerkt, dass etwas nicht stimmt. Er geht noch duschen und zieht sich selbstständig an. Das letzte Mal für eine längere Zeit. Seiner Frau und seinem Sohn sagt er, sie sollen die Ambulanz rufen. Dann wird er bewusstlos.
Was danach geschehen ist, weiss Nicolas nur aus Erzählungen. Er wird zuerst ins Spital Bülach eingeliefert, dann aber rasch ins Unispital Zürich verlegt. Während einer Notoperation wird ihm ein Loch in die Schädeldecke gebohrt, damit das Blut abfliessen kann. Nicolas wird über die Leiste ein Katheter ins Hirn gelegt und zwei Tage später durch Verödung der betroffenen Blutgefässe die Blutung gestoppt. Nicolas liegt während der ganzen Zeit im Koma. Als er nach einer Woche aufwacht, ist nichts mehr wie zuvor. Durch die schweren Blutungen wurde vor allem sein Thalamus geschädigt, eine Region im Zwischenhirn, die das «Tor zum Bewusstsein» genannt wird. Nicolas Sensorik funktioniert nicht mehr, er ist gelähmt. All das realisiert er erst Wochen später. Nicolas sehr gute körperliche Verfassung rettet ihm das Leben – sein Herz und seine Organe tragen trotz der schweren Hirnverletzung keine Schäden davon.
Das Leben danach
Rund zwei Wochen nach der Hirnblutung wird Nicolas in die Reha-Klinik in Zihlschlacht (TG) verlegt, die auf neurologische Rehabilitation spezialisiert ist. Dort wird nicht nur die Diagnose arteriovenöse Malfunktion (AVM) gestellt, sondern das junge, sehr motivierte Team beginnt unverzüglich mit seiner Reha.
«Nach rund vier Wochen habe ich erst realisiert, was mit mir passiert ist. Ich habe gemerkt, dass ich im Rollstuhl sitze, meine Hände und Beine nicht bewegen kann. Mein Hirn war vorher die ganze Zeit im Überlebensmodus, es hatte keine Kapazität, meinen Zustand zu bewerten. Trotz meines Zustands hatte ich keine Angst, sondern immer die Hoffnung, dass es mir wieder besser gehen würde», erzählt er.
Und Nicolas macht Fortschritte: Während der dreimonatigen, sehr intensiven Reha schafft er es, wieder aufzustehen und die ersten Schritte zu gehen. Er wird ein drittes Mal operiert. Bei diesem Eingriff werden die letzten Blutrückstände in seinem Thalamus entfernt und die gerissene Stelle geklebt. «Es ist eine seltsame und beängstigende Vorstellung, Kleber im Hirn zu haben. Doch diese Methode scheint sich bewährt zu haben. Zu Beginn musste ich alle eineinhalb Jahre zur Kontrolle, jetzt nur noch alle fünf Jahre», sagt Nicolas.
Heilender Körper, schmerzender Körper
Nicolas gewinnt nach und nach dank seiner Reha und mit eigenem Training immer mehr Körperfunktionen zurück, die verloren geglaubt waren. Heute kann er mit einem Dreirad wieder Velo fahren, er unternimmt kilometerlange Spaziergänge und hat sich zuhause ein Fitnessstudio eingerichtet. Nicolas beschreibt seine Gangart und die Haltung seines linken Arms als leicht «unrund» – ansonsten merkt man ihm seine vorübergehende Lähmung nicht mehr an. Auch seine Denk- und Konzentrationsfähigkeit hat sich wieder gebessert, Nicolas wird nicht mehr so schnell müde. Heute ist er im Alltag nicht mehr auf die Unterstützung anderer angewiesen. Alles bestens, könnte man denken.
Leider ist dem nicht so. Entgegengesetzt zu seinen motorischen Fortschritten entwickeln sich bei Nicolas neuropathische Schmerzen. Diese können infolge einer Schädigung des Gehirns oder des Rückenmarks auftreten. Für Nicolas bedeutet das, ein Gefühl wie von tausenden Nadelstichen ertragen zu müssen. Zudem hat er mit schweren Spastiken in den Beinen und Händen zu kämpfen – vor allem links. «Es fühlt sich an, als habe sich mein Körperzentrum nach der Hirnblutung nach rechts verschoben. Rechts ist meine gute Seite, links verspüre ich unbändige Schmerzen», erzählt Nicolas.
Gegen die Schmerzen und um seine Spastiken zu lösen, werden Nicolas Medikamente verschrieben. Bei hohen Dosierungen haben diese jedoch extreme Nebenwirkungen. «Manchmal fühlte ich mich wie neben der Spur. Ich war nicht mehr ich selbst. Es gab Momente, da hat mein Geist meinen Körper verlassen, ich habe mich von aussen betrachtet und gefragt: Was mache ich da eigentlich?», beschreibt Nicolas seine Erfahrungen mit den Medikamenten. In dieser Zeit bricht Nicolas viele soziale Kontakte ab. Auch seine Beziehung, in der es schon vor der Hirnblutung gekriselt hat, geht in die Brüche. Immerhin: Zu seiner Ex-Frau und seinen Kindern hat er noch immer guten, vertrauensvollen Kontakt. Nicolas fühlt sich zeitweise wie ein «Krüppel» und schämt sich für seinen Zustand. «Ich bin richtig komisch geworden. Ich hätte auch nicht mit mir befreundet sein wollen», blickt er auf diese schwierige Zeit zurück. Die Schmerzen machen Nicolas das Leben zur Qual. Er denkt über Suizid nach, meldet sich Exit an.
Linderung durch Cannabis
Jahrelang versucht Nicolas vergeblich, seine neuropathischen Schmerzen mit «konventionellen» Medikamenten in den Griff zu bekommen. Weil nichts hilft, recherchiert er selbst und kommt so darauf, Cannabis auszuprobieren. Weil sein damaliger Neurologe nicht offen gegenüber Cannabis als Heilmittel ist, besorgt er sich es selbst und verdampft es im Vaporizer. Erstmals erfährt er Linderung für seine Schmerzen. «Als Sportler hatte ich früher Vorbehalte gegen alle Arten von Drogen. Heute macht Cannabis mein Leben wieder lebenswert», sagt er. Allerdings lässt sich das Cannabis so nicht so genau dosieren und auch die Beschaffung ist schwierig.
Als sich im Jahr 2022 die Gesetzeslage zugunsten von Menschen ändert, die sich selbst mit Cannabis therapieren, geht Nicolas auf seinen neuen Neurologen zu und lässt sich das Spray Sativex verschreiben. Leider verträgt er es nicht gut. Über die Patiententreffen von Medcan lernt Nicolas nicht nur viele neue Menschen kennen, sondern erhält auch hilfreiches Cannabis-Wissen sowie den Kontakt zu einer gut informierten Neurologin an der Zürcher Hirslanden Klinik. Sie verschreibt ihm – die Information hatte er von Medcan – ein Cannabis-Sativa-Öl, von dem er je nach Schmerzintensität ein paar Tropfen unter die Zunge träufelt. Gemeinsam mit seinem «Rucksack» an Massnahmen gegen den Schmerz wie Atemübungen oder Meditation verschafft ihm das Öl nach 30 Minuten Linderung. Die Schmerzen werden erträglich. Und nicht nur das: Dank des Cannabis-Öls hat Nicolas wieder mehr Appetit, ist aufgestellter und unternehmungslustiger. Er knüpft an alte Freundschaften an und kann sie wiederbeleben. «Vor der Cannabis-Therapie wollte ich nur für mich allein sein. Endlich habe ich wieder Lust und Kraft unter Leute zu gehen», erzählt er.
Ärzteschaft besser informieren
Nicolas wünscht sich, dass sich – nachdem die Gesetzesgrundlage dafür jetzt geschaffen wurde – sich die Ärzteschaft mehr zu den positiven Eigenschaften von Cannabis weiterbilden würde. Und dass Ärztinnen und Ärzte anerkennen, dass Cannabis nicht nur Schmerzen lindert, sondern auch sehr positive Eigenschaften für die seelische Gesundheit der Patientinnen und Patienten hat. Nicolas ist der lebende Beweis dafür.
«In meinem früheren Leben war ich Cannabis-Gegner. Heute kann ich nicht mehr ohne den Wirkstoff leben, denn er lindert meine Schmerzen.»
Wissenswertes zu arteriovenöser Malformation (AVM)
Bei einer arteriovenösen Malformation (AVM) handelt es sich um eine Missbildung der Blutgefässe im Hirn. AVM ist sehr selten und meist angeboren. Pro Jahr werden schweizweit rund 120 Fälle diagnostiziert.
Was ist eine arteriovenöse Malformation (AVM)?
Bei Betroffenen wie Nicolas sind Hirnarterien und Hirnvenen direkt miteinander verbunden – zwischen ihnen fehlen die dünnen Kapillargefässe. Dies bedeutet, dass das Blut schnell und mit hohem Druck durch die Hirngefässe fliessen kann. Kommt es zum Riss oder Bruch eines der grossen Gefässe, kann es wie bei Nicolas zu schweren Blutungen im Hirninneren kommen. Diese können zu schlaganfallartigen Beschwerden, Epilepsie, neurologischen Ausfällen oder Kopfschmerzen führen.