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Marcel

Jahrgang: 1986
Diagnose: Morbus Crohn
«Ich wünsche mir, dass Menschen wie ich nicht mehr kriminalisiert werden.»
«Ich musste mich entscheiden: zwischen mehr Gesundheit dank Cannabis – und dem Autofahren.»
Marcel
Patientengeschichten

Marcel ist sieben, als er wegen Blut im Stuhl und mit Verdacht auf Blinddarmentzündung ins Spital eingewiesen wird. Leider bestätigt sich der Verdacht nicht: Mit Marcels Blinddarm ist alles in Ordnung. Was Marcel hat, weiss zunächst niemand. Für den Bub bedeutet das: Vier Wochen Spital, alleine in einem Achtbettzimmer. «An das erste Mal im Spital erinnere ich mich noch heute. Ich habe mich so einsam, traurig und auch ängstlich gefühlt. Und weil es kurz vor Weihnachten war, wusste ich nicht, ob ich Heiligabend zuhause mit meiner Familie würde feiern können.» Nach zahlreichen Tests kommt heraus, dass Marcel an Morbus Crohn (siehe Box) leidet – einer chronischen Entzündung des Darms. Weil die Forschung zu Morbus Crohn anfangs der Nullerjahre noch in den Kinderschuhen steckt, wird er «...mit Cortison vollgepumpt. Damals galt das Medikament als ‘Allheilmittel’. Ich wurde kugelrund und bin richtig aufgedunsen von den Wassereinlagerungen», erzählt der schlanke junge Mann. Immerhin: Cortison hält den Morbus Crohn für einige Jahre einigermassen im Schach.

Lernen im Spital

Als Marcel elf ist, schlägt die Krankheit erneut mit voller Wucht zu. Damals muss er ein dreiviertel Jahr am Stück im Kinderspital St. Gallen verbringen – und hat dort auch Unterricht. «Im Spital ungestört Aufgaben zu machen und zu lernen, ist fast unmöglich. Es gab viel Ablenkung, weil z. B. dauernd jemand von der Pflege ins Zimmer kam.» Bis zur Sekundarstufe bleibt er trotz seiner wiederholten, langen Spitalaufenthalte am Schulstoff dran und muss keine Klasse wiederholen.

Weil das entzündungshemmende Cortison irgendwann nicht mehr hilft, gilt er schnell als «austherapiert». Darum raten die Ärztinnen und Ärzte zu einer operativen Entfernung des Dickdarms und einer Hälfte des Dünndarms. «Mich hat man damals nicht gefragt. Meine Mutter musste entscheiden und sie hat den Ärztinnen und Ärzten vertraut. Ich mache niemandem einen Vorwurf – man wusste es einfach nicht anders.» Leider verschiebt die Operation sein Problem nur. Statt dem Darm entzünden sich nun Marcels Magen, seine Speiseröhre und es bildet sich eine Fistel vom Enddarm zur Blase. Als Folge vermischen sich Urin und Stuhl und Marcel leidet dauernd unter Blasen- und Nierenentzündungen. «Der Chirurg sagte mir, man könne die Fistel operativ entfernen. Aber es gäbe nur eine Fifty-fifty-Chance, dass die OP gelingen würde. Mir war das zu wenig. Ich hätte impotent werden können oder eventuell einen künstlichen Blasenausgang gebraucht.» So bleiben Marcels Nieren- und Blasenbeschwerden, bis er mit 12 Jahren einen künstlichen Darmausgang (Stoma) erhält.

Ein Tiefpunkt nach dem anderen

Von nun an muss Marcel immer den Stoma-Beutel mit sich herumtragen. Dafür schämt er sich – vor allem vor Mädchen. Manche Mitschüler mobben mich auch: «Die Stoma-Beutel waren damals noch sehr schlecht im Vergleich zu heute. Ein paar Mal ist der Beutel in der Schule ausgelaufen und es gab eine Riesensauerei. Ich wurde gehänselt und sogar geschlagen», erzählt er erstaunlich ruhig. Marcel lügt daraufhin seine Ärzte und Ärztinnen an und sagt ihnen, die Blasen-Fistel sei kein Problem mehr – nur damit sein künstlicher Darmausgang rückgängig gemacht wird. «Ich habe meine Krankheit gehasst und wollte als gesund dastehen. Natürlich kamen ohne den künstlichen Darmausgang die Probleme mit der Fistel und somit auch die Blasen- und Nierenentzündungen zurück.» Einige Jahre boxt er sich anschliessend mit der Einnahme von Schmerzmitteln und Antibiotika durch.

Trotz seiner vielen krankheitsbedingten Absenzen schliesst Marcel erfolgreich die Realschule ab und beginnt eine Lehre als Stromer. Diese muss er jedoch abbrechen – unter anderem weil es auf Baustellen oft keine WCs gibt. Er sattelt auf eine kaufmännische Lehre um, schliesst diese erfolgreich ab und arbeitet anschliessend Teilzeit auf einer Gemeindeverwaltung.

Mit 22 verschlechtert sich sein Zustand jedoch so sehr, dass er sich entscheidet, wieder einen Stoma legen zu lassen. Er lässt sich eingehend von einem Hersteller beraten und stellt fest, dass sich die Stoma-Technik verbessert hat. Mit dem neuen künstlichen Darmausgang verschwinden endlich die Entzündungen in Blase und Niere.

Marcel «trocknet» aus

Leider ist Morbus Crohn noch immer da. Marcel plagen schlimme Durchfallphasen, in denen er jeweils mehrere Liter Flüssigkeit verliert. «Ich bin nicht mehr nachgekommen mit Trinken. Anfangs bekam ich einmal pro Woche Infusionen im Spital, später täglich. Ohne wäre ich verdurstet. Zudem war ich durch die dauernde Dehydrierung ständig müde und mir war schwindelig», berichtet er von dieser schlimmen Zeit. Daheim, alleine in seiner Wohnung hat er oft kaum die Kraft, sich etwas zu trinken zu holen oder zu kochen.

Schlagartige Besserung durch Cannabis

Als Marcel mit Ende 20 – als Folge der Dehydrierung – wieder einmal Herzrasen hat und deswegen nicht schlafen kann, greift er zum ersten Mal zu einem Joint. Er merkt sofort, wie gut es ihm tut: Er kann einschlafen, sein Darm «beruhigt» sich und seine Beschwerden nehmen ab. Im Internet hatte Marcel sich bereits über die positiven Effekte von Cannabis bei Morbus Crohn informiert. Zunächst raucht er nur abends vor dem Einschlafen, dann zwei bis drei Joints am Tag: «Aber immer nur, wenn ich all meine To-Do’s abgehakt hatte und sicher nicht mehr Auto fahren musste.» Durch die entzündungshemmende Wirkung von Cannabis verlangsamt sich Marcels Darmtätigkeit: Endlich kann das Organ die ihm zugeführte Flüssigkeit und Nahrung besser verwerten. Marcel hat viel mehr Energie. Und er muss weniger Medikamente einnehmen.

Viel Ärger um den Fahrausweis

Dies geht einige Jahre gut bis zu einer Verkehrskontrolle im Jahr 2016, bei der der Polizist einen Urin-Drogentest verlangt. Marcel erklärt dem Mann seine Krankengeschichte und «...dass er nicht wie ein gesunder Mensch in ein Röhrchen pinkeln könne». Daraufhin macht der Polizist einen Mundabstrich, der negativ ausfällt, und lässt ihn fahren. Leider meldet der Polizist Marcels Krankengeschichte ans Strassenverkehrsamt, woraufhin von Marcel zu einem Verkehrstest – Kostenpunkt 1400 Franken – gezwungen wird. Marcel erzählt der Verkehrspsychologin offen seine Krankengeschichte und erklärt ihr, dass er Cannabis zur Selbsttherapie nutzt. Natürlich schlägt der obligatorische Drogentest positiv aus. Marcel betont: «Ich bin ein verantwortungsvoller Mensch und würde nie jemanden absichtlich in Gefahr bringen. Nach einem Joint Auto zu fahren, das gab es bei mir nicht. Dagegen interessiert es niemanden bzw. es ist sogar legal, vollgepumpt mit Schmerzmedikamenten wie Morphin Auto zu fahren. Was bei mir aus der Not heraus öfter mal der Fall war, wenn ich ins Spital musste.» Das Strassenverkehrsamt entzieht Marcel den Fahrausweis. Er wehrt sich mithilfe eines Anwalts und mit dem Schreiben seiner Ärztin – leider erfolglos.

Eine lange, immobile Zeit

Für Marcel bedeutet Autofahren aus mehreren Gründen ein Stück Freiheit: «Das Auto bietet mir einen geschützten Raum. Wenn ich aufs WC muss, kann ich einfach stressfrei anhalten. Ich komme mit dem Auto schnell zu meinen vielen Arzt- und Spitalterminen. Zudem kann ich damit jederzeit meine schwerkranke Mutter im 20 Minuten entfernten Pflegeheim besuchen. Mit dem ÖV müsste ich vier Mal umsteigen und bräuchte weit mehr als eine Stunde.»

Marcel muss von nun an ein Jahr lang jeden Monat zum Urintest antraben und auch zur Drogenberatung. Er blickt zurück: «Ich hatte wegen des Fahrausweisentzugs sogar Selbstmordgedanken. Ich konnte meine Mutter kaum mehr besuchen, hatte Angstzustände und es ging mir gesundheitlich wieder schlechter. Immer wieder stellte ich mir die Frage: Warum werde ich so bestraft? Ich habe doch nichts falsch gemacht.» Marcel erzählt seiner Vertrauensperson am Spital von seinen Gedanken und sie reagiert sofort. Ein Psychologe wird eingeschaltet und Marcel erhält notfallmässig Antidepressiva. Marcel schraubt seinen Cannabiskonsum herunter und hört schliesslich ganz auf. Leider kommen mit dem reduzierten Cannabis-Konsum kommen auch seine gesundheitlichen Beschwerden zurück.

Ein Jahr später: Die Verkehrsprüfung und den abschliessenden Drogentest, die ihn wieder 1400 Franken kosten, besteht er – auch weil der Verkehrspsychologe kein erklärter Cannabis-Gegner ist. Marcel erhält die Auflage, ein weiteres Jahr lang monatlich Urintests zu machen und weiterhin die Drogenberatung aufzusuchen. Letztere tut Marcel unerwartet gut – denn er wird vorurteilsfrei empfangen, führt gute Gespräche und fühlt sich verstanden. «Endlich sagte mir mal jemand, dass ich nichts falsch gemacht habe. Und mir wurde bestätigt, dass ich mein Leben – trotz des Fahrausweisentzugs – gut im Griff habe.»

Marcel hat, um mobil zu sein, seine Cannabis-Selbsttherapie abgebrochen. Dank vieler professioneller Gespräche, seiner Partnerin und einem stabilen Freundeskreis geht es ihm heute viel besser. Inzwischen hat er auch gelernt, seine Krankheit zu akzeptieren, was es psychisch für ihn einfacher macht.

Seit Februar 2021 arbeitet er Teilzeit beim Kanton auf einer Inklusionsstelle und hat gute Chancen, fest übernommen zu werden. Auch sein Pensum möchte er erhöhen. In Bezug auf Cannabis hat er einen Wunsch: «Ich hoffe, dass die Vorverurteilung von Menschen, die sich mit Cannabis therapieren bald aufhört. Dass Medizinerinnen, Mediziner und auch Behörden begreifen, dass es Menschen wie mich gibt, denen nur Cannabis hilft. Und dass wir deshalb noch lange keine Kriminellen sind.»

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Wissenswertes zu Morbus Crohn

Die Krankheit ist eine seltene Krankheit: Nur rund 8000 Menschen in der Schweiz leiden an Morbus Crohn. In den meisten Fällen tritt die Erkrankung zum ersten Mal zwischen dem 15. und dem 35. Lebensjahr auf. Marcel war mit seinen 7 Jahren ein früher Fall. Morbus Crohn kann – je nach Schwere – mit entzündungshemmenden Medikamenten behandelt werden. Eine Heilung ist nicht möglich.

Was ist Morbus Crohn?

Morbus Crohn ist eine chronisch entzündliche Darmkrankheit, bei der jeder Abschnitt des Darms vom Mund bis zum After betroffen sein kann. Meist sind wie bei Marcel das Ende des Dünndarms (Ileum) oder der obere Abschnitt des Dickdarms (Kolon) entzündet – und zwar nicht nur oberflächlich, sondern bis in tiefe Schichten. Für die Betroffenen bedeutet dies Schmerzen, andauernden Durchfall und in der Folge oft Müdigkeit und mangelnde Energie. Die Darmkrankheit verläuft in Schüben – heisst Beschwerden und beschwerdefreie Zeiten wechseln sich ab. Welchen Einfluss z. B. die Ernährung oder psychische Faktoren für den Verlauf der Krankheit spielen, ist noch weitgebend unerforscht.